Stimmungsbarometer: Schlechte Laune als hilfreiches Signal

Aug 9, 2022 | mental health für familien: achtsam und stressfrei im Alltag

Wie realistisch ist es wirklich, immer gut drauf zu sein?

Wer kann schon immer gute Laune haben? Immer ausgeschlafen, körperlich fit und geistig wach genug sein, um in jedem Kontakt mit unseren Kindern oder den Menschen um uns herum Esprit und gute Laune zu versprühen? Welches Elternteil kann schon immer so sein, wie wir es uns von uns wünschen – oft sogar erwarten – würden?

In diesem Artikel geht es mir darum, zu Normalisieren, dass es ok ist, nicht immer gut drauf zu sein. Dass jeder Mensch gute und schlechte Tage hat. Darum, wie wichtig es ist die eigenen Grenzen zu spüren und wie wir Verhalten und emotionalen Ausdruck als wertvollen Hinweis nehmen können, dass entweder unsere Bedürfnisse zu lange unbeachtet blieben oder etwas zuviel für uns war und dass wir selbst – oder eben auch unsere Kinder möglicherweise schon viel zu lange oder viel zuviel kooperiert oder die eigenen Grenzen missachtet haben.

Gute Tage – schlechte Tage

Wir alle haben gute und schlechte Tage in unserem Leben. Tage, an denen wir Herausforderungen mit Leichtigkeit begegnen und Tage, an denen wir nicht mehr können, an denen wir schon auf vermeintlich kleinere Dinge emotional reagieren: wir werden schnell(er) wütend, ängstlich, erschöpft, verletzt oder reagieren angriffslustig und werden verletzend.

Oft sind es nicht mal Tage, die von vornherein schlecht laufen  – sondern es sind Momente während des Tages. Auch, wenn der Tag ganz gut beginnt kommt irgendwann vielleicht ein Punkt, an dem uns plötzlich alles zuviel ist. Der Punkt, an dem  wir selbst nicht mehr können, unsere Kinder „anstrengend“ werden oder wir uns nur noch wünschen, dass bald Ruhe ist. Der Punkt, an dem wir von einem Moment zum anderen genervt sind.

Nicht immer verstehen wir, wo der Grat verläuft und warum wir in manchen Situationen auf eine Weise reagieren, wie wir es vielleicht gar nicht wollen. Warum wir von jetzt auf gleich aufbrausend sind, laut werden, uns verletzt oder gekränkt fühlen. Dann lohnt sich hinzuschauen, was vorher war und wann es noch „gut“ war, um langsam ein Gefühl dafür zu bekommen, wann es zuviel wird.

 

Bedürfnisse & Befindlichkeiten

Nicht nur unsere Kinder haben Bedürfnisse – auch wir großen Menschen. Und wie bei unseren Kindern führen (zu lange) unerfüllte Bedürfnisse dazu, dass es uns nicht gut geht. Dass wir als Erwachsene und besonders als Eltern unsere Bedürfnisse zurückstellen (können) ist einerseits gut – sonst könnten wir uns  nicht in der Intensität um ein Neugeborenes kümmern, wie dieses es braucht. Andererseits ist es gerade dann wichtig, uns dabei nicht selbst vollkommen zu vergessen. Denn wir können ja nur weiterhin gut für unsere Kinder da sein, wenn es uns selbst gut genug geht, um eben auch da sein zu können.

Wir können nur dann gut für unsere Kinder da sein, wenn es uns selbst gut geht.

Schlafmangel, Hunger und tagelang nichts anderes als die eigenen vier Wände gesehen zu haben lässt uns definitiv an Grenzen kommen. Zu lernen auch gut für sich selbst zu sorgen ist etwas, das vielen von uns schwerfällt. Das gute ist – wir erhalten immer wieder eine neue Chance dazu – und immer wieder neue Hinweise, dass es Zeit wäre, auch auf uns selbst zu achten.

Neben den Bedürfnissen unterliegen wir auch den Bedingungen, die in uns und um uns herum herrschen. Krankheitsphasen, hormonelle Unausgeglichenheiten oder Lockdowns haben Einfluss auf uns und unsere Gestimmtheit – darauf, wie es uns physisch und emotional geht. Und auch das dürfen wir anerkennen und wahrnehmen. Eine gute Resilienz mag hilfreich sein, besser damit umgehen zu können, uns regulieren zu können – sie kann aber nichts wegzaubern oder ungeschehen machen. Und manchmal geht es deshalb einfach darum genau das anzuerkennen: das es gerade nicht leicht ist. Es geht nicht darum, etwas schönzureden oder zu unterdrücken. Genausowenig geht es darum, sich stattdessen in ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Ärger oder Trauer hineinzuschrauben. Es geht schlicht um die Bewusstheit, dass wir  – wie alle Menschen  – erstens nicht unabhängig von äusseren Bedingungen sind oder leben. Und wir zweitens körperliche Wesen sind, die körperliche Zustände haben, die uns mal besser und mal schlechtere Grundvoraussetzungen bieten. Und wir leben eingebunden in Systemen (Familie, Arbeit, etc), die ebenso auf uns einwirken.

 

Die eigenen Grenzen spüren

Die eigenen Grenzen zu spüren haben die wenigsten von uns gelernt. Und so übergehen wir sie wieder und wieder, bis unsere eigenen „unerklärlichen“ Emotionen uns zeigen, dass es (manchmal schon viel zu lange) viel zuviel ist.

Genau wie uns geht es auch unseren Kindern. Auch sie haben gute Tage und schlechte Tage. Tage, an denen viele Reize auf sie einströmen, die sie verarbeiten müssen. Tage, an denen sie viel kooperieren – ihre eigenen Grenzen übergehen, was bei Kindern selten gesehen sondern oft als selbstverständlich betrachtet wird. Tage oder Momente, an denen sie nicht mehr können. An denen sie unfreundlich oder mit schlechter Laune reagieren. Wütend sind, „schlechtes“ oder unerwünschtes Verhalten zeigen.

Spätestens, wenn wir merken, dass wir oder unsere Kinder motzig werden, kann es gut sein, dass wir unsere oder ihre  Integrität zu lange mit Füßen getreten haben. In der Situation selbst befinden wir uns dann bereits mitten in einem Tunnel, in dem es schwer ist den Ausgang zu sehen. (Ich werde in einem anderen Artikel noch darüber schreiben, dass es Möglichkeiten gibt). Doch mindestens im Rückblick hilft es uns dabei hinzuschauen und zu reflektieren, wo genau es zuviel war – und was es vorher gebraucht hätte, um vielleicht für die Zukunft etwas verändern zu können. Das wichtige daran – nicht den Tropfen ansehen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat – sondern schon viel viel früher ansetzen – dort, wo es noch richtig gut war. Und von hier ausgehend überlegen, ob der Heimweg vom Kindergarten über Spielplatz und Supermarkt vielleicht einfach nach dem langen Tag einfach zuviel ist und mindestens der Einkauf zu einem anderen Zeitpunkt erledigt werden könnte.

Alte Wunden weitergeben: Wie wir lernen uns nicht mehr zu spüren

Wenn Kinder bockig werden, laut sind, wenn sie hauen oder schreien, kurz, wenn sie zeigen, dass sie in akuter Not sind und irgendetwas ganz und gar nicht mehr in Ordnung ist, dass sie eigentlich Hilfe bräuchten, um mit der Situation klarzukommen – oder eigentlich, dass sie schon viel früher etwas anderes gebraucht hätten sind wir Eltern häufig nicht nur mit der ganzen Wucht an negativen Emotionen konfrontiert, die sie uns in dem Moment entgegenbringen oder die sie zeigen – sondern auch mit unseren eigenen Emotionen, die damit ausgelöst werden.

Wenn Kinder sich auf diese Weise verhalten, reagieren Erwachsene häufig mit Unverständnis und bezeichnen Kinder dann als ungezogen, trotzig, Wutzwerge oder sonstigen Zuschreibungen, die negieren, was wirklich ist. Kinder sind nicht unerzogen, sie sind in Not. Sie sind nicht ungehörig, sie brauchen einen erwachsenen Menschen, der sie Co-Reguliert und für sie da ist.

Doch getrieben von der Angst, dass sie selbst in der Erziehung versagt oder etwas versäumt haben üben Erwachsene genau dann häufig erst recht Druck aus, bestrafen oder beschämen das Kind, um das gezeigte Verhalten abzustellen – für die aktuelle Situation und mögliche zukünftige. Statt die Not zu sehen und das eigene Herz dafür zu öffnen verschließen sie es – mit gutem Grund, wie wir gleich sehen werden.

Wenn wir als Erwachsene so handeln, zementieren wir genau, was uns selbst fehlt: wir lehren unseren Kindern, dass ihre Grenzen, ihr Signal, das etwas „zuviel“ ist, dass sie  eine Grenze erreicht oder überschritten haben, dass sie nicht mehr können – dass das nicht erwünscht ist. Dass Erwachsene und auch Bindungspersonen von ihnen erwarten, dass sie ihre Grenzen nicht zeigen und in Folge dessen irgendwann auch nicht mehr spüren. Ein ewiger Kreislauf.

Und statt ins Mitgefühl zu gehen werden wir hart und beginnen „zu erziehen“. Weil wir uns sonst in diesem Moment eingestehen müssten, dass uns selbst dieses Mitgefühl als Kind gefehlt hat.

Dass wir selbst auch keine Wut oder Trauer zeigen durften. Dass wir brav sein mussten. Leise. Gehorsam. Kurz, dass Gefühle oder Überforderung zu zeigen nicht ok war. Und dass wir, wenn wir es taten keine Hilfe erhielten sondern im besten Fall allein blieben mit diesen Gefühlen.

Ein wertvolles Signal

Wir alle haben gute und schlechte Tage. Tage, an denen es uns gut geht und Tage, an denen wir nicht so gut gestimmt sind.

Lasst uns lernen die Stimmung und emotionale Lage unserer Kinder und von uns selbst als wertvolles Zeichen zu sehen. Als wertvoll und sogar als ein erwünschtes Signal dafür, dass sie oder wir wahrscheinlich schon eine Weile zuviel kooperiert haben.

Dass ihre oder unsere Bedürfnisse zu lange ignoriert oder nicht gestillt werden/ wurden. Dass Grenzen übertreten oder von uns selbst zu lang ignoriert wurden. Sprich: Dass es ihnen oder uns in diesem Moment nicht (mehr) gut geht und es ok ist darauf aufmerksam zu machen. Denn nur damit können wir lernen, dass es schon viel früher ein „stop“ gebraucht hätte.

Ein Wahrnehmen, dass es viel ist und wir eine Pause einlegen oder etwas verändern sollten. Dass es vielleicht etwas anderes braucht, um anders mit dem umgehen zu können, was auf uns einströmt. Und vor allem, dass es Menschen braucht, die da sind. Die mit Mitgefühl und Güte in der Lage sind sich selbst zu regulieren und auch die gerade großen Gefühle mit uns auszuhalten.

Die Welt verändern

Was wäre, wenn wir genau in diesen Momenten, wenn sich schlechte Laune zeigt, emphatisch und zugewandt, liebevoll und verständnisvoll für uns selbst und für unsere Kinder da sein könnten? Wie würde sich das anfühlen und was würde sich damit verändern? Zu sich oder dem Kind etwas zu sagen wie: „oh wow, du bist ganz schön wütend jetzt. Das war gar nicht ok für dich, stimmts? So wolltest du das nicht.“

Und das Gefühl willkommen heißen, wertschätzen in seiner Kraft, die es hat und mit der es uns ganz klar aufmerksam macht – dann, wenn wir eben vorher zu lange nicht hingesehen haben.

Ein Mensch, der aufwachsen darf in der Gewissheit die eigenen Gefühle, Grenzen und Bedürfnisse sind ein natürlicher Teil und es ist ok, dass sie da sind, würde das nicht ein Mensch werden, der seine eigenen Grenzen achtet und nein sagen kann? Ein Mensch, der spürt, wenn die Bedürfnis- Speicher sich leeren und in der Lage ist für sich selbst zu sorgen. Wie würde sich das Leben auf unserer Erde gestalten, wenn es mehr Menschen wie diesen geben würde?

Und was wäre, wenn wir in Zukunft auch unsere eigene schlechte Laune wie einen lieben Menschen willkommen heißen könnten. Schön, dass du da bist und danke, dass du mir immer wieder zeigst, wenn ich mich selbst übergehe. Ich werde in Zukunft besser auf mich achten. Danke, dass du mich erinnert hast.

Hier schreibe ich:

Dreifachmama, systemische Familienberaterin, Traumatherapeutin (HPP), Burnoutcoachin, Wissbegierige, Schokoladensüchtige, Teeliebende, Yogapraktizierende.

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Abonniere meinen Newsletter und verpasse keinen Beitrag mehr. Hier geht es vor allem um as Thema Familie und wie wir lernen können mit Streß, Trauma, schwierigen Situationen so umzugehen, dass unsere Kinder möglichst gesund aufwachsen können. Ich beschäftige mich damit, wie Menschen groß werden, was sie prägt und was sie brauchen, um physisch und psychisch stabil zu bleiben oder zu werden. Bindungsforschung, Entwicklungspsychologie, Stress-Regulation und  Transgenerationale Themen haben es mir besonders angetan. Gibt es ein Thema, das dich besonders interessiert? Eine Frage, mit der du dich gerade auseinandersetzt und für die Du gern Inspiration hättest? Schick mir gern deine Wünsche, worüber ich in Zukunft noch schreiben soll.

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