Von wegen „Stade Zeit“: Wie Social Media uns in der Vorweihnachtszeit manipuliert
Vom Adventskalender zum Coachingpaket in 3-2-1-deins
Was früher die Fernsehwerbung war ist heute weitaus präsenter. Kein Kanal, auf dem wir nicht konfrontiert sind mit Angeboten. Im Fokus steht häufig gar nicht mehr „das Weihnachtsgeschenk“.
Vielmehr nutzen Coaches und Berater*innen die „ruhige“ Zeit des Jahres dafür nochmal so richtig die Werbetrommel zu rühren, ihre Email-Listen mit neuen Leads zu füllen und am Besten direkt die Kund*innen für Januar zu aquirieren.
Was macht es mit Menschen, wenn wir nur noch umgeben sind von Werbung? Und was macht es mit uns, wenn auch vermeintlich persönlichere Ansprachen uns nicht als Mensch, sondern als Kunde Nummer 234 sehen? War früher noch klar, dass Plakat und Fernsehwerbung uns Angebote unterbreiten, so befinden wir uns in Online und Social Media Kanälen in einem völlig anderen Umfeld. Ein Umfeld, in dem wir meinen Menschen, wie dich und mich zu sehen und ihnen zu begegnen. Menschen, die uns persönlich ansprechen – über Beziehungsaufbau an uns herantreten.
Was passiert mit uns Menschen langfristig, wenn wir immer mehr lernen, dass Bindung und Beziehung zueinander (aus)genutzt wird? Wenn wir von einem Menschen auf Augenhöhe zu Objekten/ potentiellen Käufern gemacht werden? Was macht es mit uns, wenn eine Zeit wie die Weihnachtszeit , in der viel Verletzlichkeit und Sehnsucht ruht, genutzt wird solche Beziehungen bewusst herzustellen? Von Menschen, die uns (vermeintlich oder erstmal) Gutes wollen und uns danach aber monterisieren wollen?
Diese und mehr Fragen treiben mich um und ich möchte ihnen in Zukunft mehr auf den Grund gehen. In diesem Artikel teile ich mein persönliches Gefühl von Overload in der Vorweihnachtszeit mit euch.
Adventskalender overload: Social Media Fatigue in der Vorweihnachtszeit
Da fängt sie an: Die beschauliche Zeit. Die Zeit, die (angeblich) für Rückzug steht – und für Besinnung. Dafür, das Wesentliche wieder mehr in den Blick zu rücken, sich von überflüssigen Aufgaben zu verabschieden. Mehr Zeit für Familie und Traditionen. Für Plätzchen- und Tannenduft. Heimelig und gemütlich soll es sein. Entspannt. Eine Zeit, in der die Beziehung zu den Menschen um uns herum wichtig sein und werden soll. In der wir unser Herz öffnen für unsere Mitmenschen und uns selbst. Mitgefühl. Dankbarkeit. Nächstenliebe.
Worte und Bilder, die unser Herz wärmen sollen sind omnipräsent. Doch warum genau klappt es nicht? Warum fühlen wir uns nicht wie in einem Weihnachtsfilm? Was mit uns vor Weihnachten passiert und wie wir manipuliert werden: damit möchte ich mich jetzt und auch in Zukunft noch genauer beschäftigen. In diesem Artikel teile ich erstmal meine Gedanken, die mich zu dem Punkt geführt haben.
Denn: Diesen Artikel schreibe ich an einem dritten Dezember. Mit einem Gefühl von Social Media Adventskalender Overload.
Die Tücken von Social Media
Ich grenze mich im Allgemeinen gut von Social Media ab, weil ich merke, dass es mir nicht gut tut. Phasenweise mehr. Phasenweise weniger. Mein Balanceakt ist der, den viele gehen. Ein wenig wie in einer on/off Beziehung. Es geht nicht mit aber auch nicht ohne.
Doch ein wenig gehört es doch auch dazu, oder? Statt Zeitungen zu lesen scrollst du heute online durch die Schlagzeilen, öffnest facebook, Instagram oder Twitter und guckst, was los ist in der Welt. Doch schon hier hat sich der erste Fehler versteckt. Denn Social Media ist kein Abbild davon, was in der Welt oder auch bei Menschen passiert und gibt uns auch kein verlässliches Bild davon.
Wieso tun wir es dann? Wo wir doch wissen, dass geschönte Bilder und harmonischer Kitsch die Kassen klingeln lässt und spätestens im „call to Action“ unten eine Aufforderung steht, was wir kaufen können, damit es bei uns ebenso wundervoll harmonisch ist oder wie wir unser Leben mit Produkt xyz im Handumdrehen verbessern können.
Harmonie mit Zimtsternen: Die Bildsprache wird vor Weihnachten bewusst so gewählt, dass sie uns in dieser Zeit emotional erreicht. Sie bedient und festigt Vorstellungen darüber, wie Weihnachten aussehen soll.
Wir alle wissen, dass es nirgends immer so perfekt und harmonisch aussieht und zugeht, wie die Social Media Welt uns glauben machen möchte. Und das selbst die „für mehr Realität“ Hashtags die gleiche Schublade bedienen. Nichts (oder fast nichts) davon ist dafür gemacht, dass die Menschen, die Postings sehen, diese Inhalte konsumieren sich damit besser fühlen oder einen „Mehrwert“ davon haben. Und schon gar nicht vor Weihnachten.
Mit einem Fingerschnipp ist das ganze Haus weihnachtlich geschmückt und die Familie trägt Nikolausmützen. So funktioniert es nur in Social Media
Stattdessen ist es meiner Meinung nach eine Mischung aus Selbstdarstellung und Marketing. (Ausnahmen bestätigen sicher auch hier die Regel)
Adventskalender für die Zeit des Wartens – doch wo bleibt das Warten?
Ich weiß nicht, wie das bei euch ist. Die Woche vor Weihnachten lief mein Postfach schon heiss und jedesmal, wenn ich irgendwo online unterwegs war wurde ich geradezu überschwemmt mit Angeboten. Dem Black Friday (der ja nicht mal nur ein Tag, sondern eine ganze Woche ist) folgte nahtlos die Woche des ersten Advents und den Tagen vor dem 1. Dezember.
Und der 1. Dezember ist der Startschuss für etwas, das wir aus Kindertagen als eine Zeit des Wartens kennen. Versüsst und erträglicher sollte sie durch einen Adventskalender werden. Jeden Tag ein Bildchen oder ein Stück Schokolade. Damit die Zeit nicht so unheimlich lang ist.
Adventskalender sollten uns als Kinder die Zeit des Wartens versüßen. Die mesiten Erwachsenen befinden sich im Dezember jedoch nicht im Wartemodus, sondern eher im Sprintmodus.
Heute als Erwachsene haben die meisten von uns ja weniger das Thema, dass die Zeit bis Weihnachten sich so endlos zieht und wir nicht wissen, wie wir sie rumkriegen sollen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Die Zeit rast. Vor dem Jahresende ist sowohl beruflich als auch privat für viele nochmal richtig viel los.
Dazu kommen Ansprüche, Perfektionsdenken und das Topping macht dann, was uns gesellschaftlich oder über Medien als wichtig und richtig suggeriert wird. Wenn wir Familie haben, dann wollen wir natürlich auch alles „richtig“ machen und unseren Kindern eine wunderschöne Zeit bieten. Nein, ein Zuviel Zeit für uns selbst – eine ruhige, besinnliche Zeit, eine Zeit des Rückzugs, eine Zeit des Wartens ist das für die wenigsten.
Damit bräuchte es auch keinen Adventskalender, der uns die Zeit verkürzt, sondern wenn eher einen, der uns die Zeit verlängert, oder? Ich persönlich würde manchmal sogar einen bevorzugen, der die Zeit anhält. Jetzt, wenn die Tage immer kürzer werden und die Aufgabenliste immer länger.
In 24 Tagen schlank, glücklich und erfolgreich
Und doch: Heute bin ich überschwemmt von gefühlt unzähligen von Angeboten für Adventskalender von Menschen, die über Social Media ihre Dienstleistungen anbieten und sie unter dem Nikolaus-Mäntelchen der Nächstenliebe verstecken.
24 Tage Achtsamkeit oder in nur 24 Tagen zu deiner Online Selbständigkeit. Fit in 24 Tagen, Gesund in 24 Tagen, Erfolgreich in 24 Tagen…. carpe diem. Schließlich hast du ja jetzt ne ruhige Zeit, eine Zeit des Rückzugs, wo du alles unnötige sein lässt und endlich mal Zeit für anderes hast. Für dich. Dafür an dir selbst oder deinem Business zu arbeiten.
Unter dem Nikolaus-Mäntelchen der Nächstenliebe erhalten. wir ein Angebot nach dem anderen. Etwas wie: „Schlank und erfolgreich in nur 24 Tagen.“
Selbst, wenn die vermeintliche Intention ist, dir Zeit für dich zu schaffen und etwas gutes zu bewirken (fit, gesund, achtsam durch den Advent) ist es doch in den allermeisten Fällen eher eine Aufgabe „on top“. Etwas, das noch dazukommt. Würde ich alle Adventskalender abonnieren, wäre ich mindestens den halben Tag allein damit beschäftigt die Sprüchlein zu lesen, die 10-20 minütigen Podcast Beiträge zu hören, die Workbooks zu lesen oder auszufüllen und die Hausaufgaben für den Tag zu erfüllen.
Marketing, das dich dort trifft, wo es weh tut und Begehrlichkeit weckt
Uns erreichen Impulse, die uns dort treffen, wo wir in dieser Jahreszeit sowieso schon auf die ein oder andere Weise überwältigt sind. Wir sollen unser Leben, unsere Familie, unsere Gesundheit, unser Business, unsere Weihnachtszeit noch mehr zu verbessern. Endlich das umzusetzen, was wir das ganze Jahr nicht so geschafft haben. Das nächste Jahr soll schließlich besser werden, als das letzte.
Die Kund*innen für Januar aquirieren? Ganz einfach: Nutze alte und neue Vorsätze und Wünsche fürs das kommende Jahr als Ansatz für dein Vorweihnachtsmarketing.
Es stimmt schon. Die Vorsätze vom letzten Sylvester mehr Sport zu treiben, viele Blogbeiträge zu schreiben, die Beziehung auf die Reihe zu kriegen, gesünder zu kochen unsere Gewohnheiten zu ändern und Ziele zu erreichen liegen in der Vorweihnachtszeit häufig eher wie kleine Scherben vor uns. Vielleicht Bruchteil davon haben wir erreicht. Vielleicht auch gar nichts.
Waren wir im Januar noch jeden Tag joggen, begleitet uns ab Juni spätestens das unterschwellige Gefühl „wieder etwas nicht hingekriegt zu haben“ oder „nicht gut genug zu sein“.
In diesem Zustand von „ich habe versagt“, „ich würde es gerne anders machen“, „ich hatte so viele Vorsätze und konnte nichts davon umsetzen“ oder auch dem Wunsch, dass das kommende Jahr mehr für uns bereithalten soll, treffen wir nicht zufällig auf Beiträge, die uns genau daran erinnern. Natürlich nicht, indem sie den Finger zu offensichtlich in diese Wunde legen, aber gleichzeitig doch ansprechen was uns gefehlt hat oder was wir uns wünschen würden.
Persönliche Anmerkung: Vielleicht reagiere auch nur ich ein wenig allergisch auf vieles, weil ich Werbung studiert habe und mich Option eins schnell manipuliert fühle – oder Option 2 Dinge durchschaue (gut möglich auch beides).
Vom Adventskalender zum Jahrescoaching
Verlässlich, wie das Amen in der Kirche, folgt auf jedes Adventskalendertürchen, das in Social Media als hilfreiche gute Tat für uns angeboten wird auch die Möglichkeit für eine weitere Zusammenarbeit oder den Kauf eines (Online) Produktes, das uns noch weiter beflügeln wird.
Der Griff nach dem Geldbeutel steht höher als jeder Weihnachtsstern.
„Nur jetzt im Dezember zwei Online Yoga Kurse für 499 statt 750euro“. „Bring dein Business 2023 auf das nächste Level“. Der Griff nach den Geldbeuteln steht höher als jeder Weihnachtsstern.
Und das Gesetz des Online Marketing Funnel besagt: Nach dem kostenlosen Giveaway (z.B. Adventskalender) versuchst du so viele Fischlein wie möglich in dein Netz äh Jahresprogramm zu locken. Und ja, es ist absolut legitim eigene Leistungen nicht kostenfrei zu verteilen. Schließlich müssen wir alle von etwas leben. Ich frage mich nur, was dieser Overload an Angeboten mit den Menschen macht und warum sich Unternehmen oder Werbetreibende scheinbar keine Gedanken darum machen. Und mich persönlich stört dieses Verstecken hinter vermeintlicher Nächstenliebe oder das Ausnutzen von Schwäche oder Traurigkeit der Menschen zu dieser Zeit. Das führt mich direkt…
Auf zum nächsten Streich: Die Wiederentdeckung der Rauhnächte
Manchmal überlege ich, ob ich mich mehr darauf freue, wenn die Vorweihnachtszeit endlich vorbei ist. Doch Moment: denn nahtlos an die Vorweihnachtszeit, die gekrönt sein wird von geschmückten Tannenbäumen und Reels, die untermalt von beschwingter Musik mit einem Fingerschnipp die Wohnung im schönsten weihnachtlichen Look erstrahlen lässt, während uns glückliche Menschen mit Nikolausmützen in die Kamera strahlend anschauen, folgt ja der nächste Verkaufsschlager: die Wiederentdeckung der Rauhnächte.
Nach Black Friday, Adventskalendern und Sylvester wartet der nächste Verkaufsschlager: die Wiederentdeckung der Rauhnächte.
War diese Zeit etwas, was mir noch in Erzählungen überliefert ist ist es heute ein Geschäftsmodell, dass die Kassen nach Weihnachten nochmal klingeln lässt.
Wer jetzt denkt, nein, es lässt sich nicht aus allen alten Ritualen was rausschlagen, irrt. Denn „heilig“ ist, was sich in Verkaufszahlen niederschlägt.
Mit der Kraft der Rauhnächte zurück zur eigenen Weiblichkeit: jetzt zum einmaligen Sonderpreis von €199,-
Jetzt kannst du endlich lernen, wie du richtig räucherst oder deine Weiblichkeit wiederentdeckst, wie du mit dem Mond im Einlang lebst oder die besten Rauhnachts-Gerichte für deine Familie zauberst.
Mein persönlicher Overload ist schon Anfang Dezember erreicht
Jetzt mal ehrlich: wie penetrant kann Werbung sein? Ich zumindest befinde mich nun, am 3.12. gefühlt seit Tagen in einem Social Media Adventskalender-Vorweihnachtszeit-Werbungs-Overload. Und das, obwohl ich mit meiner Familie gerade in den Bergen bin, wo wir kaum Internet haben. Verstecken ist nicht.
Da hilft nur eins: Digital Detox, wann immer möglich. Und Atmen.
Ob der Breathwork Adventskalender mir dabei helfen kann?
Vielleicht biete ich ja nächstes Jahr einen Adventskalender an. Der wird dann den Titel tragen: „wie du 24 Tage lang durchhältst ohne ein (Jahres-) Coaching zu kaufen oder einen Newsletter zu abonnieren“.
In diesem Sinne wünsche ich: Eine besinnliche Zeit und eine gute Portion Humor: ho – ho – ho
Autorin
Seit über einem Jahrzehnt begleite ich Familien in verschiedenen Lebenslagen. Auf meinem Blog schreibe ich über Themen, die mich beschäftigen und berühren. Von Bindungs- und Neurowissenschaften über Entwicklungspsychologie bis hin zu Stressprävention, Trauma und Burnout.
Es geht um alles, was Eltern und Fachkräfte bewegt – und was uns hilft, unsere Kinder gut ins Leben zu begleiten. Manchmal teile ich auch persönliche Einblicke aus meinem Alltag als Mutter von drei Kindern.
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