Der Hamster in mir – bin ich eine Kriegsenkelin?

Nov 7, 2022 | Gesellschaft & Persönliches, Stress, Trauma & Burnoutprävention

In diesem Artikel erfährst du, was der Begriff Kriegsenkel bedeutet. Du bekommst ein Gefühl dafür, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden können und liest, wie ich in Kontakt mit einem Aspekt meiner Großeltern-Generation kam, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Dieser Artikel entstand im Rahmen der Blogparade: „Wie ich herausfand, dass ich eine Kriegsenkelin bin„.

Können Kriegsenkel wirklich vererbte Trauma haben?

Es hat lange gedauert, bis anerkannt wurde, welchen immensen Einfluss der Krieg und die Umstände, die er mit sich brachte, auch auf die Generation der Kriegskinder hatte. Also auf die Generation, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde. Ein Aufwachsen in ständiger Bedrohung, geprägt von Verlust, Angst und von Eltern, die physisch oder emotional nicht anwesend waren. Nicht, weil sie es nicht wollten, sondern weil die Umstände es mit sich brachten. Ein Aufwachsen, das häufig von Gewalt und Entbehrungen geprägt war, von emotional nicht nahbaren oder dissoziierten, ja von zutiefst traumatisierten Vätern und Müttern.

Die Kriegsenkel sind die Kinder der Kriegskinder. Dass auch diese Generation noch betroffen ist von den Auswirkungen der Kriegs- und Nachkriegszeit kommt vielen vielleicht unglaubwürdig vor. Doch kollektive Trauma wie Krieg und Vertreibung stecken tief in unseren Knochen und sie werden über mehrere Generationen hinweg weitergegeben.

Eine Studie an Mäusen zeigte, dass Generationen später noch die Jungtiere auf dargebotene Reize, mit denen sie selbst nie schlechte Erfahrungen gemacht hatten, Traumafolgestörungen zeigten, wenn die Ahnen-Generation zum Zweck der Studie gezielt auf diese Reize traumatisiert wurde. Das sah so aus, dass den Mäusen Kirschblütenduft gemeinsam mit Stromschlägen verpasst wurden. Eine nicht gerade nette Studie. Und sie hat bewiesen, dass selbst Generationen später die Nachkommen sich noch vor dem Duft von Kirschblüten fürchteten und eindeutige Trauma-Reaktionen zeigten, obwohl sie selbst nie schlechte Erfahrungen gemacht hatten.

Bin ich eine Kriegsenkelin?

Meine Großeltern wurden ungefähr 1918 geboren und waren Teenager bis junge Erwachsene bei Kriegsausbruch. Damit gehöre ich zur zweiten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg – der Enkelkinder-Generation. Bedeutsam ist jedoch weniger die Generationenfrage sondern vielmehr, ob Menschen Symptome oder Auswirkungen spüren, die möglicherweise im Zusammenhang mit den Erfahrungen ihrer Ahnen stehen. Inwieweit Corona einen Aspekt davon in mir zum Vorschein brachte schreibe ich hier:

Corona Hamsterkäufe? Ohne mich!

Wie viele Menschen sind wohl während Corona in Kontakt gekommen mit Anteilen von sich, die sie vorher nicht wahrgenommen haben oder die bis zu diesem Zeitpunkt keine Notwendigkeit hatten, sich zu melden. Ich glaube, dass in unzähligen Bereichen ungewollte Feldstudien stattgefunden haben in dieser Zeit. Die dazu geführt hat, dass so viele verschüttete Aspekte, Ängste, Symptome und Trauma zum Vorschein kamen.

Zum Beispiel, als sich die Menschen zum ersten Lockdown mit Hamsterkäufen begannen, sich mit Toilettenpapier und ähnlichem einzudecken. Das hat natürlich auch ein ansteckendes Element – denn, wenn die Herde beginnt zu rennen, dann rennen wir mit – könnte ja sein, dass sie besser informiert sind, als wir selbst. Und im Zweifel sagt unsere Natur uns: Lauf mit – sonst wirst du vielleicht gefressen. Wer weiß schließlich mit Gewissheit, ob wir nicht gerade vor einem Löwen wegrennen. Zu Beginn der „Hamsterperiode“ hatte ich also sehr den Effekt im Kopf, dass wir alle aufeinander reagieren und blieb deshalb stoisch unbeeindruckt. 

Den Hamster in mir entdecken: Auf der Suche nach Sicherheit

Diese stoische Haltung führe allerdings dazu, dass ich tagelang nirgends Toilettenpapier kaufen konnte und mir nach einer Weile – kein Scherz – meine Mutter welches mit der Post schickte, weil wir eben keinen Vorrat angelegt hatten. Zu dem Zeitpunkt war ich „nur“ leicht genervt, fand. esaber immer noch sehr lehrreich – und nicht bedrohlich. Glücklicherweise ist ein Leben auch ohne WC Papier möglich – und dank unserer Reisen wissen wir uns auch zu helfen.

Als ich dann aber längere Zeit nirgends mehr Mehl und Hefe kaufen konnte, war es, als würde sich ein kleiner Schalter in mir umlegen. Ich hatte den Hamster in mir gefunden. Der, dem es wichtig ist, Vorräte anzulegen für den Winter –  dafür, das Überleben zu sichern in einer Zeit, die von Kälte und Entbehrung geprägt ist. Ich begann zu überlegen, was unsere Familie alles unbedingt benötigt, um zwei Wochen ohne Kontakt nach außen durchzuhalten. Ich räumte die Küche um, die nicht für Vorratshaltung ausgelegt ist, um etwas Stauraum zu schaffen. Und ich kaufte ein: Tomatendosen,  Nudeln, Reis, Mehl, Hefe, Marmelade. In meinem Kopf drehte sich plötzlich viel darum, dass die Kinder und wir genug Essen im Haus haben mussten  –für alle Fälle. Dass unsere Vorräte sich nicht erschöpfen sollten. Die ersten Einkäufe waren kostspieliger, als wir es gewohnt waren. Denn so ein Vorrat muss ja erstmal angelegt werden…  Mein Mann verdrehte die Augen. Für mich war es aber ein essenzielles Bedürfnis. Ich brauchte diese Sicherheit. Ich war in Kontakt mit einem Teil von mir, der mir neu war und der sehr genaue Vorstellungen hatte, wie er mich und meine Familie schützen wollen würde. Vor dem Hungertod.

Großmutters Erbe?

Mehrmals dachte ich in der Zeit darüber nach, dass wir meine Großmutter immer belächelt haben. Sie hatte immer einen gefüllten Vorratsschrank und bei jedem Besuch öffnete sie ihn wie eine Schatzkiste und versuchte, meiner Mutter für uns Kinder und sie Lebensmittel aufzuschwatzen, die wir doch mitnehmen sollten. „Was ist mit Dosenbirnen?“ „Nein? Aber das …. braucht ihr doch sicher.“ „Komm, nimm es mit!“ Es war jedesmal das gleiche Spiel und eine festgefahrene Situation. Ein Mensch, der sich davor zu retten versucht Berge von Lebensmitteln, die wir nicht benutzen würden, mitnehmen zu müssen. Und ein Mensch mit Kriegs- und Entbehrungserfahrung, dem es ein großes Bedürfnis war uns Nahrung zu geben und der über das Verschenken und Mitgeben von Nahrungsmitteln eindeutig auch Sorge und Liebe ausdrückte.

Und vielleicht, so sagte mir mein kleiner Hamster, lag meine Großmutter mit ihrer Vorratshaltung gar nicht so falsch. Dass sie und andere aus ihrer Generation wussten, warum sie darauf achteten, Vorräte anzulegen. Meine Empathie wuchs und ich spürte eine klare und wachsende Verbindung.

Die Balance halten – Danke, Oma!

Heute haben wir die Vorräte reduziert. Ich kann auch atmen, wenn das Mehl aus ist und ich nicht weiß, ob ich welches im Supermarkt bekommen werde. Seit zwei Wochen versuche ich gerade vergeblich, die Cornflakes Sorte zu bekommen, die meine Kinder mögen und es ist okay ohne diese oder jegliche andere Sorte auszukommen. Ich erlaube meinem Hamster wieder sich zu entspannen und zurückzulehnen.

Und ich weiß: ein Teil meiner Großeltern steckt in mir. Mindestens. Ich würdige dieses Erbe – denn ohne das hätten sie nicht überlebt. Und hätten sie nicht so gut für sich gesorgt, wäre ich heute nicht hier. Dann würde es auch meine Kinder nicht geben. Ich. bin dankbar dafür und rückblickend würde ich gerne zurückgehen auf einen Besuch bei meiner Großmutter und mir freudig alles an Nahrung mitgeben lassen, was sie mir schenken würde und ihr zeigen, dass ich dies als Zeichen ihrer Zuneigung und Liebe verstehe.

Und ich weiß, dass in mir Wurzeln stecken, die auch für meine Familie und mich wissen, vorzusorgen und aufzupassen. Die Antennen, die Gefahr wittern – zum Beispiel vor Nahrungsknappheit und sich darauf einstellen können. Es ist gut damit in Kontakt zu sein, es nicht zu verdrängen und das Programm auch nicht einfach löschen zu wollen. Es ist ein Überlebensprogramm und Teil meines Erbes. Und ich darf es auf die Realität hin überprüfen.

Warum die Hamsternatur mir heute hilfreich ist

Meine Lebensumstände haben sich so verändert, dass ich inzwischen aus praktischen Gründen nur mehr alle 10-14 Tage einkaufen gehen kann (statt wie noch vor einigen Jahren täglich am Supermarkt vorbeizulaufen). Insofern darf mein kleiner Hamster jetzt auch sinnvolle Arbeit tun. Ich muss ihn also nicht in Rente schicken. Er darf vorsorgen – Und er gerät nicht in Panik, wenn etwas ausgeht. Danke, Hamster! Danke, Oma!

 

About

Hi, ich bin Tamara. Bindungsorientierte Familienberaterin und körperorientierte Traumatherapeutin. Außerdem Mama von drei Kindern. Seit über zehn Jahren begleite ich Familien von der Schwangerschaft beginnend über die Babyzeit bis zum Teenageralter – und dich als Mensch, wenn du mehr über dich erfahren, alte Muster erkennen und neue Wege einschlagen willst. 

 

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transgenerationales Trauma – wie das Trauma unserer Ahnen in uns wirkt

Jippieh, endlich! Nachdem ich immer wieder angefragt werde habe ich nun gute Nachrichten. Es wird 2023 endlich auch Workshops und Seminare zum Thema Transgenerationale Arbeit geben. Gemeinsam klären wir, was transgenerationale Weitergabe von Trauma genau bedeutet, wie du Wirkmechanismen erkennst und was du im Hier und Jetzt zur Heilung von vererbten Traumata beitragen kannst.

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