Lernen während Corona. Ist das jetzt Homeschooling?
Keine Bildung ohne Schule? Lernen während Corona
Verpassen meine Kinder den Anschluss? Wie vermittle ich meinem Kind Mathematik?
Viele Eltern sind verunsichert und suchen Antworten auf ihre Fragen. Sie möchten ihre Kinder so gut wie möglich unterstützen. Ich lese im Netz Tipps wie Homeschooling funktioniert und was Eltern tun können, damit sie den Stoff (gehirngerecht) vermitteln können – am Besten, während sie selbst im Homeoffice arbeiten und auch noch Haushalt und Tagesablauf strukturiert halten – und bitte ohne die gute Laune zu verlieren. (klingt das irgendwie realistisch?)
Ein Lockdown macht Kinder nicht zu Homeschoolern
Das Problem an der Sache ist: Die Kinder, die jetzt ein paar Wochen zu Hause verbringen sind deshalb noch lange keine Homeschooler. Es sind Schüler*innen, für die gerade kein Unterricht in der Schule angeboten werden kann. Das ist ein Unterschied.
Genauso wenig sind Eltern nun automatisch Lehrer*innen, wenn die Schule für ein paar Wochen nicht stattfindet. Das mag vielen noch einleuchten. Schließlich haben sie das ja nicht gelernt. (Mit Ausnahme derjenigen, die wirklich den Beruf ergriffen haben natürlich). Warum es aber trotzdem kein Homeschooling ist, wenn Kinder nun zu Hause lernen sollen – und welche Schwierigkeiten dabei auftreten – dem widme ich diesen Artikel.
Struktureller Aspekt: Schulanwesenheitspflicht versus Bildungspflicht
Allein die Tatsache, dass es kein deutsches Wort für homeschooling gibt (Hausunterricht scheint nicht adäquat zu sein) mag unser erster Hinweis darauf sein, dass es in Deutschland weder vorgesehen, noch erwünscht ist, von zu Hause aus zu lernen (ich spreche nicht von Hausaufgaben) oder sich auf anderem Weg frei zu bilden. In Deutschland herrscht Schulanwesenheitspflicht. In anderen Ländern, in denen es eine Bildungspflicht gibt, kann dieser auch anderswo als innerhalb eines Schulgebäudes nachgekommen werden. Hierzulande nicht. Fällt nun die Schule aus (wetterbedingt oder wie jetzt wegen Corona) obliegt damit nicht automatisch den Eltern und Kindern sich plötzlich selbst um (die vermeintlich entgangene) Bildung zu kümmern.
Nachvollziehbar, wenn es ein kurzer Zeitraum ist, der wegen Erkrankung von Lehrer:innen oder Sturm entfällt. Nun betrifft der Ausfall nicht eine einzelne Schulstunde und auch nicht einzelne Tage, sondern es werden ein paar Wochen sein. Wochen ohne Schule. Wochen ohne Schulanwesenheitspflicht. Wochen ohne Bildung.
Damit entsteht in DE aber nicht automatisch eine Bildungspflicht (um die sich dann plötzlich von jetzt auf gleich Eltern und Kinder selber kümmern müssen). Die Schule ist nur „ausgesetzt“ und wird danach wieder aufgenommen. Dieser strukturelle Aspekt, dass durch den Ausfall der Schule die Schulanwesenheitspflicht nicht durch eine Bildungspflicht ersetzt wird, vorab.
Rollenspiel Schule daheim: Wann ist Mama gerade Mama, wann ist sie Lehrerin, wann ist sie gerade Berufstätige?
Doch selbst, wenn es (plötzlich) eine Bildungspflicht gäbe, würden damit nicht automatisch die bisher in der Schule beschulten Kinder für einige Wochen zu Homeschoolern. Das ist entgegen der vielfältigen Berichterstattung eben nicht Homeschooling, was hier für ein paar Wochen passiert.
Wenn Eltern nun gezwungenermaßen(!) in die Rolle von Lehrer:innen schlüpfen und Kinder weiter Schüler:innen sind, dann ist das eher wie „Schule spielen“ oder vielleicht noch „Schule ersetzen“ indem ein Gebäude durch ein anderes und eine Lehrperson durch eine andere ersetzt wird.
Und das nicht durch irgendeine Person, sondern durch engste Bindungspersonen aus dem gleichen Haushalt. Das mag erstmal unwichtig erscheinen. Ist es jedoch nicht. Denn das kann Familien schnell in ein wahres Rollenkuddelmuddel werfen. Sowohl für die Kinder als auch für die Eltern, die im Familienleben Ansprechpartner sind für private Themen, Alltagsroutinen, große und kleine Sorgen und nun zwischen den Rollen, die sie für gewöhnlich an verschiedenen Orten ausführen hin und her switchen. Elternteil. Arbeitnehmer:in oder Lehrende:r. Diejenigen, die auch sonst von zu Hause arbeiten, mögen vielleicht einen Vorteil haben – doch wer hatte vorher schon alle drei Rollen in einer Person im gleichen Haushalt inne? Und noch wichtiger, wessen Kindern ist das so lange so geläufig, dass es sie nicht verunsichert?
Dies wiederum bedeutet, dass die Routinen und Strukturen im Alltag dazu fehlen, all dies „unter einen Hut zu kriegen“. Diese zu entwickeln braucht Zeit und immer wieder Abstimmungsprozesse. Bis jedes Familienmitglied weiß, wo ist jetzt mein Raum, wann kann ich was tun, wann bin ich für was zuständig, wo und wie begegnen wir uns – und in welcher Funktion begegnen wir uns.
Und Streßmomente sind schlußendlich auch einfach vorprogrammiert, wenn der Raum fürs „in Ruhe Arbeiten können“ plötzlich vor dem eigenen Sprössling beschützt werden muss oder wenn die Position an der Seite des Kindes bei den Hausaufgaben plötzlich gegen die Rolle einer Person, die im übertragenen Sinn vorne an der Tafel steht und ansagt getauscht werden muss.
Auswirkungen auf den Alltag in Familien und damit auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern
All das wirkt sich nicht nur auf den Alltag und die Organisation desselben sondern natürlich auch auf die Beziehung der Familienmitglieder zueinander aus, die nun sehr viel mehr Zeit als gewöhnlich miteinander verbringen. Familien, die nun ohne Garten in einer Zweiraumwohnung sitzen werden es weitaus schwieriger haben noch Freiraum für sich selbst zu finden. Fürs Lernen. Fürs Arbeiten. Dafür einen Moment durchatmen zu können.
Das bedeutet nicht per se, dass es grundsätzlich schlecht sein muss. In Familien, die genug Ressourcen haben und bestenfalls eine erwachsene Person, die nur für das Kind da sein kann und will, um es beim „homeschooling“ zu begleiten, kann dies sogar positive Veränderungen bewirken. Immer wieder gibt es Nachrichten von Familien, die berichten, dass ihr Kind seit dem Lockdown kein Ritalin mehr benötigt und vieles leichter funktioniert als vorher. Es ist keine Bürde mehr Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen. Es kann auch ein Geschenk sein. Doch wie es erlebt wird hängt letztlich davon ab, wie gut Familien schon vorher dastehen. Ein Kind, das nur daheim ist, wird mehr Begleitung brauchen, ein Elternteil, das möglichst nicht oder wenig arbeitet oder sich diese so einteilen kann, dass es gut da sein kann. Ein Elternteil, das sich auch berufen dazu fühlt und nicht genötigt.
Je nachdem, wie viele Aufgaben, Streß und Druck auf Eltern und Kinder lastet, wie viele Existenzsorgen die Familie quälen und wieviel Raum jedes Familienmitglied noch für sich hat (und Raum bedeutet nicht nur einen Ort, sondern auch die Zeit für Rückzug) kann dies auch schnell ein explosives Gemisch werden, wenn alle das Gefühl haben um ihre Integrität kämpfen zu müssen.
Freiwilligkeit
Der größte und wichtigste Unterschied zu echtem Homeschooling ist, dass Familien sich während Corona nicht freiwillig dafür entschieden haben. Und „nicht Freiwilligkeit“ bedeutet immer auch, dass wir ein Stückchen unserer Integrität aufgeben und dafür eher Ohnmacht und Verzweiflung spüren.
Die Entscheidung war keine freiwillige. Die Familien haben keine Wahl. Familien, die sich bewusst für Homeschooling entscheiden tun dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten, sie sind informiert und gewillt und verfügen über Ressourcen, Anbindung und Unterstützung, um dies auch leisten zu können. Was nun während Corona passiert ist im positivsten Fall ein Abenteuer mit unsicherem Ausgang.
Strukturiert Lernen in Zeiteinheiten und mit Arbeitsblättern: Warum sich dieser Rythmus nicht auf zu Hause übertragen lässt
Unsere Kinder sind es durch die Beschulung gewohnt ihre Zeit in kleinste Zeiteinheiten aufgeteilt zu bekommen und in 45min Rhythmen von einem Lehrkörper Stoff präsentiert zu bekommen. „Zu Hause lernen“ bzw. „homeschooling“ funktioniert nicht so. Und vielleicht bemerken einige Eltern jetzt schon, dass dies daheim auch wenig Sinn macht – (und eigentlich auch nicht anderswo).
Es gibt keinen festen Stundenplan, keinen richtigen Unterricht. Die Kinder bekommen aktuell meist Arbeitsblätter und Aufgaben zugesandt, die sie abbarbeiten sollen. Eine Situation, die auch strukturierteste Homeschooling Familien so wohl kaum haben werden.
Homeschooling ist ein längerdauernder Prozess für den sich Familien aus freien Stücken entscheiden – für ein paar Wochen aufgezwungenes zu Hause lernen ist kein Homeschooling und funktioniert einfach nicht
Ich sage: Homeschooling für ein paar Wochen funktioniert nicht. Der Umgewöhnungsprozess vom beschulten Kind zu einem jungen Menschen, der sich aktiv und selbstbestimmt mit Themen beschäftigt dauert länger. Familien, die Homeschoolen wachsen gemeinsam in dieses „Leben ist Lernen“ hinein, bekommen keine fixen Aufgabenstellungen von aussen, die sie zu erfüllen haben (sondern Vorgaben, die innerhalb eines Jahres zu beachten sind und können diese meist auf ganz eigene und damit unterschiedlichste Weise erfüllen.) Das bedeutet eben auch nicht Arbeitsblatt um Arbeitsblatt auszufüllen und sich auf diese Weise mit dem Lernstoff auseinanderzusetzen, sondern oftmals eher mit den Themen im echten Leben in Kontakt zu kommen.
Kinder, die zu Hause lernen entwickeln andere Vor- und Herangehensweisen als Kinder, die zur Schule gehen. Und Eltern, die Kinder dabei begleiten halten evtl aus, wenn es einen vermeintlichen Stillstand im Lernprozess gibt.
Jede Familie , jedes Kind ist anders. Einige finden Sicherheit in den klaren Strukturen, andere werden in einen Deschooling Prozess eintreten.
Was passiert aber nun, wenn unsere Schüler:innen plötzlich zu Hause sind? Das kommt ganz aufs Kind an. Manche Kinder werden in den klaren Strukturen und Vorgaben täglich bestimmte Aufgabenblätter auszufüllen Sicherheit finden. Andere werden vielleicht früher oder später beginnen sich hier zu verweigern.
Einige werden evtl in einen Deschooling-Prozess eintreten. Eine Phase, in der die guten Absichten von Eltern ihren Kindern etwas beizubringen oder eine typische Lernsituation herzustellen nicht zuträglich ist und konsequent boykottiert werden wird. Menschen im Deschooling Prozess „riechen“ übrigens auch pädagosiche Kreativität schon von weitem, so dass auch die vermeintlichen Tipps, Tricks, Kniffe und kreativen Lösungen „Wissen über Hintertürchen“ zu vermitteln jetzt fehlschlagen werden. Das ist wichtig für Eltern zu wissen, die sich Sorgen um die Bildung ihrer Kinder machen. Diese Phase dauert nicht ewig. Je nachdem, wie lang das Kind beschult wurde können es jedoch auch mehrere Monate sein. So viel Zeit können sich natürlich nur Familien geben, die sich aus freien Stücken selbstbestimmt für diesen Weg entschieden haben in einer äusseren Struktur, die das unterstützt. Das wichtigste dann ist sich hier nicht in einen Machtkampf zu begeben, bei dem es nur Verlierer geben wird.
Führung im Homeschooling
Doch auch ohne Deschooling Prozess oder Verweigerungshaltung, kann es für alle Beteiligten überfordernd sein, sich in eine Lernsituation zu begeben, von der weder Eltern noch Kinder wissen, wie sie diese gut gestalten sollen; welches Setting, welchen Rahmen jeder dafür braucht und wer diesen Prozess des Lernens auf welche Weise führt. Denn Lernen ist ein lebendiger Prozess der von Beziehungen lebt. Und Lernen ist vor allem auch etwas, das nur bei dem- oder erjenigen stattfinden kann, der bzw die lernt. Nicht bei der Person, die lehrt. Allein damit ist die Frage der Führung eine, die unbedingt gestellt werden sollte, wenn man sich mit dem Thema Homeschooling ersnthaft beschäftigt und sich dazu entscheidet, diese Zeit des Lockdowns als solche zu gestalten.
Was ist aber nun mit unseren Kindern?
Wenn Kinder nun für einige Wochen nicht zur Schule gehen ist die Frage, wie lohnend es wirklich ist, hieraus ein „Homeschooling Projekt“ zu machen. Oder ob es nicht eher sinnvoll wäre, die gemeinsame Zeit auf andere Weise zu verbringen. Neugierig aufeinander. Im Austausch miteinander. Und dabei vielleicht entdecken, welche erstaunlichen und schlauen Persönlichkeiten unsere Kinder sind – auch ohne tägliche Unterrichtseinheiten.
Ich schrieb bereits, dass – sollte es für Kinder und oder Eltern hilfreich sein, hier die schulischen Lernstrukturen angepasst an zu Hause zu übernehmen dies ein guter Weg ist, wenn er den Familien Sicherheit und Orientierung bietet.
Mit diesem Beitrag möchte ich nur den Begriff des Homeschoolings von dieser strukturellen Lernsituation zu Hause abgrenzen und über alle Strukturen die ihr für euch findet hinaus dafür plädieren den Blick auch für das zu öffnen, was vielleicht an Lernprozessen im normalen Leben passiert. (Ich möchte ergänzen, dass eigentlich auch eine Abgrenzung vom Homeschooling zu anderen Wegen der Bildung nötig wäre, doch würde dies den Rahmen des Beitrages sprengen, der sich an den aktuellen Gegebenheiten und Fragen von Eltern orientiert, die aktuell mit ihren Schulkindern nun den Schulstoff zu Hause weiter führen sollen.)
Wichtig ist und bleibt: Jede Familie findet ihren eigenen Weg. Es gibt kein allgemeines richtig oder falsch. Jedes Kind ist einzigartig und deshalb wird jeder Weg individuell anders gestaltet sein. Feste Unterrichtszeiten, strukturierte Vorgaben oder freies Lernen. Die Farbpalette ist riesig.
Eltern sollten sich nur darüber bewusst sein, dass sie keine Lehrer:innen sind oder sein müssen. Dass ihre Kinder es ebensowenig gewohnt sind, zu Hause zu lernen und es für alle eine völlig neue Situation ist. Und darüber, dass Lernen immer passiert. In jedem Moment. Und Lernen passiert immer in Verbindung und in Beziehung. In diesem Sinne: Nehmt rechtzeitig wahr, wenn der Druck innerhalb der Familie aufgrund des Themas steigt, gönnt euch Pausen und bleibt in Verbindung miteinander. Denn das ist die wichtigste Aufgabe von Eltern: an der Seite ihrer Kinder zu stehen.
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